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Eine Seite über den anarchistischen Theoretiker Kropotkin setzt sich zunächst der Schwierigkeit der weitgehend negativen Besetzung des Begriffes Anarchismus aus, sieht sich negativen Konnotationen und stereotypen Bildern bombenlegender, chaosverbreitender Attentäter gegenüber, die heute immer noch als Gegner für Superhelden ihren Platz im Kollektiven Gedächnis haben.
Daß diese Stereotypen auch durch zeitbedingte Wandlungen hindurch im Kern intakt geblieben sind, erschwert eine objektive Auseinandersetzung, obwohl sich - und dies soll diese Seite zeigen - eine Vielzahl von Gründen findet, die eine ideologiekritische Auseinandersetzung aber auch Würdigung der Thesen Kropotkins als Desiderat erscheinen läßt. Der Umfang des Vergessens stellt ein Kuriosum innerhalb der Sozialwissenschaften dar: Der als Anarchist stigmatisierte und dann auch konsequenterweise ignorierte Kropotkin findet nicht einmal mehr in die Fußnoten wissenschaftlicher Publikationen eingang.
Ein weiteres Problem stellt die Isolierung der Rezeption Kropotkins in entsprechenden politischen Kreisen und Bewegungen dar, die umso bemerkenswerter ist, als der politische Einfluß Kropotkins auf historische Ereignisse und soziale Bewegungen bis zum Ende des spanischen Bürgerkriegs recht bedeutend war. Ein Überblick über die wissenschaftliche Literatur zu Kropotkins politischen und ökonomischen Werken macht das Ausmaß der Isolierung nur allzu deutlich. Auf die Inhalte, die sich bisher im Netz zu Kropotkin finden möchte ich gar nicht erst eingehen, es sind lediglich einige Kurzbiographien und Schriften von Ihm zu finden.
Prill (1926) liefert in ihrer Dissertation lediglich eine Darstellung von Kropotkins Thesen in einer dem Marxismus entlehnten Gliederung nach Produktionsfaktoren; Naupert (1942) steht außerhalb jeglicher Kritik, berücksichtigt er doch in seiner Dissertation zu Kropotkins Assoziationsgedanken nicht einmal dessen zentrales Werk "Mutual Aid - A Factor of Evolution"; Miller (1976) behandelt lediglich die biographischen Aspekte in Kropotkins Arbeiten, wogegen Osofsky (1979) eher eine allgemeine Einführung in das anarchistische Denken vorlegt; auch der sehr aktive Heinz Hug kann nicht überzeugen (er möge mir verzeihen), er beschränkt sich in seinen Schriften weitgehend auf eine Aneinanderreihung von Zusammenfassungen einzelner Werke, dennoch müssen diese noch als die differenzierteste Arbeit zum Thema Kropotkin bezeichnet werden.
Dieser Überblick über die wissenschaftliche Literatur macht deutlich, daß nicht nur die geringe Anzahl der Beiträge, sondern vor allem deren methodologische Qualität eine Seite begründet, die versucht, Kropotkins Thesen auf spezifische - im weiteren noch zu benennende - Art und Weise so aufzuarbeiten, daß sie mit vorherrschenden Interpretationsansätzen in Beziehung zu setzen sind. Die bisherige Literatur war nicht in der Lage, Kropotkin so zu erfassen, daß als Ergebnis aus seinen Thesen Kategorien zu isolieren waren, die als Analyseinstrument verwendbar gewesen wären. Der Erkenntnisgewinn war entsprechend gering.
Neben den genannten politischen Implikationen ist jedoch ein weiteres Charakteristikum für das Werk Kropotkins im Blick zu behalten, der Umstand, daß sich Kropotkin für seine Zeitgenossen außerhalb der wissenschaftlichen Konformität bewegte, begründet vor allem durch seine Absicht, dem vorherrschenden Evolutionsparadigma einen eigenen Entwurf der Menschheitsentwicklung entgegenzusetzen. Die genannten Probleme und Unzulänglichkeiten ließen es sinnvoll erscheinen, das Werk Kropotkins unter diesen Aspekten einer Revision zu unterziehen, mit dem Instrument einer von den bisherigen Beiträgen deutlich abweichenden Gliederung und entsprechend mit dem Ziel, genannte Analysekategorien herauszudestillieren.
Mit Hilfe dieser Kategorien, die nicht als alternative Gestaltungskonzeption mißverstanden werden dürfen, soll ermöglicht werden, teilweise nicht mehr hinterfragten Ansätzen und Analyseinstrumenten ein Korrektiv zur Seite zu stellen, oder anders ausgedrückt, eine erkenntnisfördernde "Außensicht" auf spezifische Problemstellungen und methodologische Fragen anzubieten; dies macht deutlich, daß die Arbeit gerade nicht das Ziel verfolgt, die Thesen Kropotkins zu bestätigen oder zu verwerfen, sondern eine erweiternde Perspektive auf möglicherweise bereits fossilierte Interpretationsschemata liefern soll.
Zunächst sind die - nicht unerheblichen - Einflüsse der Sozialisation innerhalb spezifischer russischer Strukturen auf Kropotkins Weltbild zu klären, dann schließt sich eine Darstellung der Evolutionstheorie und ihrer damaligen soziologischen Varianten an, da letztendlich Kropotkins gesamte "Beweisführung" auf einer Modifikation des Darwinismus beruht, um direkt im Anschluß zu einer Darstellung seiner Arbeiten übergehen zu können. Die Gliederung folgt - als zentrale Neuerung der vorliegenden Arbeit - der auf den Naturwissenschaften fußenden erkenntnistheoretischen Überzeugung Kropotkins, mißt ihn an eigenen Ansprüchen und an eigener Logik. Ein induktiver und ein deduktiver Teil ermöglichen getrennte Kritisierung einzelner Analyseschritte und erleichtern gleichzeitig die vielen, qualitativ und inhaltlich sehr heterogenen Schriften Kropotkins in geschlossener Form aufzuarbeiten. Die Rezeption soll die Bedeutung Kropotkins aufzeigen, daneben aber auch die Frage der Isolierung neu stellen - der Boykott der spanischen Anarchisten wäre ein Paradebeispiel für Vertreter Institutionalistischer Ansätze der Organisationstheorie. Die postume Bestätigung gewisser Thesen Kropotkins durch die Spieltheorie - dargestellt im letzten Kapitel - dient dazu, den Sinn einer Wahrnehmung nicht konformer Argumentationsmuster bzw. einer "Außenperspektive" zu dokumentieren.