Kritik
Eventuelle Hintergrundmotive der Induktion
"Unser kleines Märchen: Wenn die Wissenschaft eine Methode gefunden hat, die ideologisch verseuchte Ideen in wahre und nützliche Theorien verwandelt, dann ist sie eben keine bloße Ideologie, sondern ein objektiver Maßstab für alle Ideologien."

Feyerabend

Kropotkin wird also seinen Ansprüchen nicht gerecht, der Verdacht drängt sich auf, daß er - bewußt oder nicht - nicht streng wissenschaftlich vorgegangen ist um neue Erkenntnis zu erlangen, sondern daß sein Interesse der Bestätigung bereits bestehender Ideen galt (vgl. hierzu auch Hug, 1989). Diese deckt sich zum einen mit seiner Sympathie für Fourier, der wie kaum ein anderer Sozialist versucht hat, den "Leidenschaften" in seinem Konzept einen großen Raum zu geben (Kropotkin, 1994: 15, 80-85) zum anderen auch mit der Einschätzung seines Freundes Malatesta, nach dem Kropotkin nicht über die Vorraussetzungen für eine Wissenschaftler verfügt habe,

"nämlich die Fähigkeit, seine Wünsche und Vorurteile zu vergessen, um die Tatsachen mit unbeirrter Objektivität beobachten zu können. [...] Kropotkin war zu leidenschaftlich, um ein genauer Beobachter zu sein. [...] In Wirklichkeit waren Kropotkins Anarchismus und Kommunismus nicht so sehr eine Frage des Verstandes als des Gefühls. In ihm sprach zuerst das Herz und dann erst kam die verstandesmäßige Überlegung zur Rechtfertigung und Stärkung der Impulse des Herzen (Malatesta, 1980: 59-62)."

Die Methodenwahl Kropotkins resultiert also nicht nur aus seiner persönlichen Affinität zur Wissenschaft, sondern weitere Gründe sind zu nennen. Miller ist der Meinung, daß zu jener Zeit jede Ideologie einer Legitimation von außen bedurft und diese in der Wissenschaft gefunden haben. Daß sich in der Internationalen ab ca. 1890 die marxistische Position durchzusetzen begann wird u.a. darauf zurückgeführt, daß sie sich als "wissenschaftlicher Sozialismus" verstand (Miller, 1976: 250 ff.).
Unterstellt man, daß es Kropotkin nicht um Erkenntnis sondern um wissenschaftliche Legitimierung des Anarchismus ging, erscheint sein Vorgehen sinnvoller. In seinem unvollendetem Werk "Ethik" (Kropotkin, 1976) findet sich hierbei vielleicht der entscheidende Hinweis; er ist der Meinung, sittliches Verhalten lasse sich nicht durch Vorschriften und Aufstellen von Normsätzen erreichen, sondern man müsse den Menschen ein Ideal vorgeben (vgl. hierzu auch Hug, 1989: 37). Dies sieht er in keinem Widerspruch zu der von ihm diagnostizierten natürlichen Soziabilität des Menschen, denn diese natürlichen Anlagen müßten auch noch durch eine entsprechende Sozialisation gefördert werden. In seinen Schriften kommt genau dieser Punkt immer wieder zur Sprache, wenn er die Wissenschaft seiner Zeit kritisiert, die den Menschen negative Ideen vorgebe, ob dies das vermeintliche Naturgesetz der zunemenden Kapitalkonzentration mit einhergehender Verarmung großer Bevölkerungsteile oder eben der Darwinismus sei, der die Möglichkeit bot den Armen und Schwachen die Schuld an ihrem Schicksal zu geben:
"Die Naturforscher wollten uns - ihrer bürgerlichen Erziehung Tribut zollend - weismachen, und sie gaben dabei vor, sich auf die wissenschaftliche Methode des Darwinismus zu stützen: 'Vernichtet jeden, der schwächer ist als ihr: so will es das Naturgesetz!' Da war es uns ein leichtes, mit Hilfe derselben Methode zu beweisen, daß diese Gelehrten fehlgegangen waren: Ein solches Gesetz existiert nicht, die Natur lehrt uns etwas ganz anderes, derartige Schlußfolgerungen sind keineswegs wissenschaftlich. Das Gleiche gilt für die Behauptung, die ungleiche Verteilung des Reichtums sei ein Naturgesetz oder die kapitalistische Ausbeutung die zweckmäßigste Form gesellschaftlicher Ordnung. Gerade die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Tatsachen der Ökonomie erlaubt uns zu beweisen, daß die sogenannten Gesetze der bürgerlichen Sozialwissenschaften samt der aktuellen politischen Ökonomie keineswegs Gesetze sind, sondern nichts weiter als Behauptungen, oder richtiger: Vermutungen, die man zu verifizieren versucht hat (Kropotkin, 1994: 61)."
Nutzte nun also Kropotkin eine vermeintlich objektive wissenschaftliche Methode, um ein seiner Meinung nach humaneres Ideal zu fundamentieren und zu implementieren? Wählt er also quasi den "amtlichen Weg" des Wissenschaftsbetriebes, um sein Ideal vorzugeben? Dafür spräche, daß er sich auch immer wieder auf unantastbare Autoritäten wie Darwin bezieht, und betont, diese hätten schon das Richtige erkannt, daß er prinzipiell den sozialdarwinistischen Weg wählt, indem er den biologischen Evolutionsbegriff auf die Humangeschichte übertrug und lediglich aufgrund modifizierte Annahmen zu anderen Ergebnissen kommt. Zu allen seinen Ergebnissen kommt er aufgrund derselben Methode, wie seine Ideologischen Gegner, einzig die zugrundeliegende Fragestellung und die dadurch veränderte Perspektive führen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ein kleiner Grund spräche auch dagegen: Seine Abneigung jeglichem Jargon gegenüber (Kropotkin, 1994: 104).
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