Evolutionstheorie
Die Rezeption Darwins in der Soziologie
Darwin als Chiffre für Säkularisierung
Darwin selbst bemerkt in seiner Autobiographie, daß es ihm nur durch die Lektüre von Malthus gelungen sei, sein gesammeltes Material zu synthetisieren. Malthus geht in seinem Werk "Vermehrungskraft und Lebensraum" davon aus, daß die Vermehrung von Lebewesen in geometrischer Progression erfolge, die Anzahl von Lebewesen in einem bestimmten Areal jedoch annähernd konstant bleibe. Er schloß daraus, daß irgendein Mechanismus für ein Gleichgewicht sorge; dem geometrischen Wachstum einer Population stellte er das arithmetische Wachstum des Nahrungsspielraums gegenüber, das sogenannte "Arithmetische Argument" (Albers, 1982: 21).
Malthus hatte zwar mit seiner Arbeit über eine gewaltsame Anpassung von Überbevölkerung und knappen Ressourcen keinen Selektions- sondern eher einen unspezifischen Gleichgewichtsprozeß im Auge gehabt (Hirst, 1976: 20 ff.), dennoch sieht Darwin den Kampf ums Dasein als "unvermeidliche Folge der großen geometrisch fortschreitenden Vermehrung (Darwin, 1963: 27)".
Die synthetische Evolutionstheorie hatte also ihre Ursprünge in den Gesellschaftswissenschaften, und selbst die Arbeiten zu soziologischen Problemstellungen, die kurz nach "Origin of Species" (1859) erschienen und die sich evolutionstheoretischer Erklärungsmodelle bedienen, beziehen sich im wesentlichen auf frühere Arbeiten und nicht auf die biologische Variante Darwins (Hayek, 1980: 40; Nisbet, 1969: 161 nach Hettlage, 1982: 111), dennoch erlebten sozialwissenschaftliche Evolutionskonzepte nach der Veröffentlichung von Darwins "Origin of Species" (1859) einen erheblichen Aufschwung.
Die Tatsache, daß die Idee sozialer Evolution erst nach dem Erscheinen von Darwins "Origin of Species" ihren eigentlichen Durchbruch erlebte, deutet darauf hin, daß die eigentliche Wirkung Darwins zusammen mit anderen Faktoren gesehen werden muß. Lau spricht in diesem Zusammenhang von einer "paradigmatischen Veränderung des intellektuellen Klimas der damaligen Zeit", oder anders gesagt: Darwin entsprach dem Zeitgeist (Lau, 1981: 38).
Ein großer Teil seines Erfolges ist darauf zurückzuführen, daß er Wandel nicht mehr durch außernatürliche, sondern durch immanente, natürliche Kräfte - die Auslese - zu erklären suchte. Darwin wurde im Sinne der aufklärerischen Ziele des 18./19. Jahrhunderts, zur "Chiffre für Säkularisierung", er lieferte eine wissenschaftliche Begründung der Evolutionslehre (Albers, 1982: 9; Hofstadter, 1944: 10 nach Hettlage, 1982: 113). Desweiteren kann Darwin als Naturwissenschaftler, der zudem eine Fülle von Material vorzuweisen hat, eine exakte Realitätserfassung für sich beanspruchen. So war es für Gesellschaftswissenschaftler verführerisch, ihren eigenen Aussagen mehr Wert zu verleihen, indem sie sich auf den in seiner naturwissenschaftlichen Genauigkeit kaum zu kritisierenden Darwin beriefen (Hettlage, 1982: 114 ).

Zumindest für Marx und Engels scheint dieses Motiv nachgewiesen. Der Historische Materialismus versucht, unterschiedliche gesellschaftliche Systeme nach ihrem ökonomischen Grundprinzip zu klassifizieren.

"Den entscheidenden dynamischen Entwicklungsmechanismus der gesellschaftlichen Entwicklung sieht er [...] in der Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen und der daraus abgeleiteten Dialektik des Klassenkampfes. Anders als der Spencerismus und dem Darwinismus liegt dem Historischen Materialismus ein praktisch-politisches Erkenntnisinteresse zugrunde - ein Erkenntnisinteresse, das - ebenfalls anders als die beiden anderen Richtungen - explizit prognostische Absichten umfaßt (Lau, 1981: 12/13)."

Obwohl Darwin selbst der Meinung war, die Idee Sozialismus zum logischen Ergebnis von Evolution zu erklären sei eine "foolish idea", argumentieren einige Theoretiker wie oben schon gesehen, daneben auch Edward Aveling, der Schwiegersohn von Marx, daß dies durch den Darwinismus wissenschaftlich abgesichert sei (Runkle, 1961: 108 - 126 nach Hettlage, 1982: 113).
Es wird dabei nicht immer die ganze Evolutionstheorie übernommen, sondern oft nur Teilaspekte; hinzuweisen ist vor allem auf die Übernahme des Begriffs "Kampf ums Dasein". Darwin selbst hatte zeitlebens Bedenken, biologische Kategorien auf die Kultur des Menschen anzuwenden. Bedenken, welche die sogenannten Sozialdarwinisten nicht hatten, für sie war die natürliche Auslese das Erklärungsprinzip schlechthin für die Evolution der menschlichen Gesellschaft.
Spencerismus und aufkommender Sozialdarwinismus
"Es haben Dinge zu laufen gelernt, die kriechen sollten."

H.P. Lovecraft

Während sich Darwinisten insbesondere für Mechanismen evolutionären Wandels interessieren, fragt der Spencerismus (Nach Herbert Spencer (1820 - 1903)), wesentlich beeinflußt von Auguste Comtes (1789 - 1857) (Strasser, Randal, 1979: 70),

"[nach] der generellen Richtung evolutionären Wandels, nach einem Kriterium, das die Entwicklungshöhe eines gesellschaftlichen Systems zu bestimmen erlaubt." Dieses Kriterium sieht er auf allgemeinster Ebene als Komplexitätssteigerung und Innendifferenzierung des Systems (Lau, 1981: 12)."

Herbert Spencer steht zu Beginn der Entwicklung einer Theorie der Institution und der Institutionalisierung, er geht weniger von dem einzelnen Individuum aus, sondern unterstellt vielmehr ganze Gesellschaften der Naturanalogie (Lau, 1978: 53). Schon vor Darwin und Spencer hat diese Analogie eine Rolle gespielt, aber nach den Arbeiten Spencers und Comtes war die Analogie zwischen biologisch-organischem Wachstum und gesellschaftlichem Wandel nicht mehr wegzudenken.
"Ausgehend von der unmittelbaren Anschauung, daß Organismen durch ihre Vorgänger entstehen, einen Lebenszyklus besitzen, der sie in einer gewissen Kontinuität, schrittweise und regelmäßig über Zwischenphasen zur höheren Komplexität, d.h. zur Reife führt, versuchte man deshalb - in Analogie zum individuellen Organismus, nicht etwa zu den Darwinschen 'Species' - auch die gesellschaftlichen Institutionen oder Kulturelemente zu verstehen. Das Bild des gesellschaftlichen 'Organismus' mit seinem Wachstum von der Geburt bis zur Reife wurde zum beliebten Topos des 18. und 19. Jhs., mit dem sich auch unterschiedliche Kulturen oder Kulturniveaus verschiedener Gesellschaften dem unterschiedlichen Reifegrad entsprechend klassifizieren ließen (Nisbet, 1970: 194 ff. zitiert nach Hettlage, 1982: 117)."
Für Spencer ist Evolution notwendige Entwicklung und stets als Fortschritt aufzufassen; Auslese ist daher nicht nur Faktum, sondern Notwendigkeit. In der Auslese sieht er einen Selbstreinigungsvorgang, der für den Fortschritt der Gesellschaft unabdingbar ist. Fortschreitende Evolution ist für ihn jedoch ein unumstößliches Naturgesetz: Fortschritt und Kosmos sind für Spencer Synonyme (Albers, 1982: 21; Hettlage, 1982: 114; Lau, 1981: 14 ff.).

Als Endergebnis des sozialen, politischen und kulturellen Fortschritts sieht Spencer die höchste, die perfekte Zivilisation. Der Weg dorthin gleicht einem Naturablauf, dem man sich nicht entgegenstellen darf, denn man würde einen Anpassungsprozeß hindern, der zur höchstmöglichsten Lebensqualität führt. "Weder die physisch und sozial Schwachen, noch die intellektuell Unterlegenen dürfen in diesem harten Überlebenskampf durch künstliche Eingriffe des Staates (insbesondere durch Wohlfahrtsmaßnahmen) gestützt werden (Spencer, 1896, S. 180 nach Hettlage, 1982: 114)." Der beste Beweis für die Eignung ist Erfolg im ökonomischen Wettbewerb; wer hier unterliegt, bekommt lediglich die Quittung für seine eigene Unangepaßtheit (Hettlage, 1982: 114). In diesem Zusammenhang prägte Spencer die griffige Formel des "Survival of the fittest". Somit kann der Spencerismus als Antwort auf die beginnenden Emanzipationsforderungen benachteiligter Bevölkerungsgruppen im vorigen Jahrhundert gesehen werden (Riedl, 1987: 38).

Spencers Theorie weist einige Schwächen auf: Der Ursprung der Variation bzw. der sozialen Ungleichheit wird vernachlässigt. Die Unterschiede in den sozialen Ausgangspositionen und den sozialen Chancen werden nicht berücksichtigt, sondern als naturgegeben betrachtet und von der Diskussion ausgeschlossen; die Auslese erfolgt nicht durch eine variable und gestaltbare Umwelt, sondern wird in einen "natürlichen" unausweichlichen Trend zur Perfektion einbezogen; ebenfalls mittlerweile als empirisch widerlegt gilt die These, "daß gesellschaftliche Evolution einem einheitlichen Entwicklungspfade folge (Unilinearität), daß sie als Entwicklung vom Niedrigen zum Höheren zu konzeptualisieren sei, daß sie sich zwangsläufig ergebe, und schließlich, daß sie irreversibel sei (Lau, 1981: 16)."

Die meisten Fehlinterpretationen der Evolutionstheorie auf soziologischer Ebene ergeben sich offenbar, und dies gilt besonders für Spencer und die Sozialdarwinisten in dessen Nachfolge, aus Analogieschlüssen, die den "abstrakten Charakter des darwinistischen Kalküls nicht erkannten und nach direkten Entsprechungen zu konkreten biologischen Erscheinungen suchten (Lau, 1981: 77)".

Ludwig Gumplowicz (1838 - 1909) verband den Spencerismus mit dem Aspekt der Rasse, was in seiner letzten Konsequenz fatale Wirkung hatte. Rassen wurden weitgehend mit Nationen gleichgesetzt und mit Zivilisationsrängen belegt. Mit dem vermeintlich ehernen Gesetz des "Kampfes aller gegen alle" ließen sich nun u.a. die europäischen Praktiken in den Kolonien ideologisch rechtfertigen (Hug, 1989: 15). Klein waren von dort die Schritte zum "Kult des Krieges", im angeblichen Interesse der Menschheit (Moltke), und zur Rassenauslese:

"[Man glaubte, entdeckt zu haben], daß die Begabteren sich schwächer vermehrten als die unbegabteren Unterschichten, so daß für den Zivilisationsprozeß zu befürchten stand, die Auslese der Tüchtigsten würde sich in ihr Gegenteil verkehren. Offenbar konnte man dem Spencerschen Naturdeterminismus nicht so ganz trauen. Rassenpolitisch sollte zumindest das Laissez-faire wegfallen [...] (Bowler, 1975: 109 zitiert nach Hettlage, 1982: 116)."

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