Deduktion
Eigentum
Zu den Grundforderungen Kropotkins, um Sicherheit und Wohlstand für möglichst viele Menschen zu erreichen, gehört das Gemeineigentum an Produktionsmitteln; hierin stimmt er mit anderen sozialistischen und anarchistischen Theoretikern überein. Die Begründung hierfür erfolgt allerdings weniger ökonomisch, sondern über die Eignung des Gemeineigentums hinsichtlich der schon ausführlich erläuterten Triebe nach gegenseitiger Hilfe und nach Individualismus; Kropotkin sieht eine Tendenz der Menschheit in der Geschichte der Institutionalisierung, sich gegen jegliche Autorität und Herrschaft zu wenden, ohne Herrschaft gebe es allerdings auch kein Privateigentum. Gemeineigentum sei "natürlicher", d.h. es entspreche mehr den menschlichen Bedürfnissen (Kropotkin, 1989, S. 7, 23; Kropotkin, 1993: 219). Daneben betont er die positiven Auswirkungen von Gemeineigentum, dessen Nutzung "ohne Zweifel der Entwicklung des rücksichtslosen Individualismus und der Habgier einen Damm entgegensetzt (Kropotkin, 1993: 224)". Eine weitere Begründung erfolgt historisch: Die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen Produktionsmittel sind der Arbeitsertrag unzähliger Menschen und Generationen, deren jeweiliger Beitrag zu der Schaffung von Produktionsmitteln beim besten Willen nicht mehr festgestellt werden kann:

"Millionen menschlicher Wesen haben daran gearbeitet, diese Zivilisation, deren wir uns heute rühmen, zu schaffen. Andere Millionen, verstreut über alle Teile des Erdballs, arbeiten daran, sie zu erhalten. Ohne sie würden nach Verlauf von 50 Jahren nur noch Schutthaufen von vergangener Herrlichkeit zeugen. Es gibt nichts, und sei es ein Gedanke oder eine Erfindung, was nicht Kollektivarbeit wäre, was nicht in der Vergangenheit und in der Gegenwart zugleich seinen Ursprung hätte (Kropotkin, 1989: 4)."

Oder, an anderer Stelle:

"Der Wert eines Hauses in bestimmten Vierteln von Paris beträgt eine Million, nicht weil es für eine Million Arbeit enthält, sondern weil es in Paris liegt; weil seit Jahrhunderten Arbeiter, Künstler, Denker, Gelehrte und Schriftsteller ihre Mühen vereinigt haben, um Paris zu dem zu machen, was es heute ist: ein Zentrum der Industrie, des Handels, der Politik, der Kunst und der Wissenschaft; weil es eine Vergangenheit hat; weil seine Straßen dank der Literatur bekannt sind - in der Provinz wie im Ausland; weil es ein Produkt der Arbeit von 18 Jahrhunderten, von 50 Generationen [...] ist. Wer hat da das Recht, den kleinsten Teil dieses Terrains [...] sein Eigen zu nennnen [...] (Kropotkin, 1989: 60)?"

Da eine Zurechnug der anteiligen Leistung bei der Erstellung von Gütern nicht erfolgen kann, folgt für Kropotkin direkt, daß es kein Privateigentum an Produktionsmitteln geben dürfe.

Ein Problem besteht allerdings nun darin, daß bei Gemeineigentum der Ressourcen nach Kropotkin die Tendenz besteht, diese extensiv zu nutzen, solange die Ergebnisse der Nutzung Privatbesitz werden. Als wirkliche Lösung sieht Kropotkin nur die, wie er es nennt, "Sozialisierung des Konsums".

In dieser Forderung liegt der entscheidende Unterschied Kropotkins zu anderen sozialistischen und auch anarchistischen Theoretikern: Die Güter sollen leistungsunabhängig nach den Bedürfnissen verteilt werden. "Jedem nach seinen Bedürfnissen" ist das übliche Schlagwort, welches sich in der Literatur mit dem Namen Kropotkins verbindet. Das ist nach Kropotkin ohnehin unabdingbar, da man keine exakte Unterscheidung zwischen Produktionsmittel und Konsum machen könne. Kleidung, Nahrung, Wohnraum usw. könne man ebenso als Produktionsmittel wie als Konsumartikel betrachten:
"Das Bett, das Zimmer, das Haus sind Orte des Nichtstuns für denjenigen, der nichts produziert. Aber für den Arbeiter ist ein geheiztes und erleuchtetes Zimmer ebenso gut Produktionsmittel, wie die Maschine oder das Werkzeug. Es ist der Ort der Erholung seiner Muskeln und Nerven, deren er morgen wieder bei der Arbeit bedarf. Die Ruhe des Produzenten bedeutet den Gang der Maschinen (Kropotkin, 1989: 37)."

"'Aber jeder Mann wird dann einen Zobelpelz und jede Frau eine Sammetrobe haben wollen', höre ich schon unsere Gegner ausrufen (Kropotkin, 1989: 67)"; Kropotkin bestreitet dies, nicht nur, weil "nicht jedermann Sammet liebt und auch nicht jedermann von einem Zobel träumt (Kropotkin, 1989: 67)", sondern, weil der Konsum in dem weiten Bereich der öffentlichen Güter schon (erfolgreich) nach dem Prinzip "Jeder nach seinen Bedürfnissen" geregelt sei:

"Die Brücke, für deren Passage einst von den Passanten ein Zoll bezahlt wurde, ist öffentliches Eigentum geworden. Eine Bezahlung für die Benutzung der gepflasterten Landstraßen, die ehemals nach Leistungen bemessen wurde, besteht nur noch im Orient. Die Museen, die jedem offen stehenden Bibliotheken, die unentgeltlichen Schulen, die Speisungen der Kinder auf Gemeindekosten, die öffentlichen Parks und Gärten, die gepflasterten und erleuchteten Straßen, Jedermann unentgeltlich zugänglich, die Wasserleitung mit der allgemeinen Tendenz, die Bezahlung nicht nach der konsumierten Quantität zu berechnen - alle diese und noch viele andere Institutionen sind gegründet auf dem Prinzip: 'Nehmet so viel, als ihr bedürft.' (Kropotkin, 1989: 21)"

Kropotkin sieht dabei unbeschränkte Möglichkeiten von Technik und Wissenschaft im Hintergrund, die eine ausreichende Versorgung garantieren würden. Erneut spielt also das Arithmetische Argument hinein, das er für widerlegt hält, da nach seinen Berechnungen die Produktivkraft bei weitem schneller wachse als die Anzahl der Menschen, insofern müsse eine "Ökonomie des Reichtums" entwickelt werden, eine Ökonomie in welcher die Bedürfnisse im Vordergrund stehen - im Gegensatz zu den Ansätzen seiner Zeitgenossen, bei denen die Produktion die zentrale Größe sei (Kropotkin, 1921).
ZURÜCK WEITER