Deduktion
Lohnsystem
Die freie Verfügung eines jeden über alle produzierten Güter macht für Kropotkin ein wie auch immer geartetes Lohnsystem überflüssig. Die übrigen sozialistischen Systeme, die sich zwischen zwei ökonomischen Grundrechten, dem "Recht auf den vollen Arbeitsertrag", nach dem jeder Arbeitende den vollen Ertrag seiner Arbeit zu erhalten habe, ohne das von irgendjemanden ein "Mehrwert" einbehalten wird, und dem "Recht auf Existenz", nach welchem die Bedürfnisse den Lohn bestimmen sollen, entscheiden (Prill, 1926: 22), sind für Kropotkin nicht weitreichend genug konzipiert, denn sie legen das Hauptgewicht der gesellschaftlichen Veränderung einseitig auf die Produktionsseite. Sämtlichen Wirtschaftstheoretikern seiner Zeit mach er den Vorwurf, sich zuerst mit "der Produktion, der Analyse der Mittel (Kropotkin, 1989: 138)" zu beschäftigten, bevor sie den Konsum analysieren.
"Man wird vielleicht sagen, daß dies nur logisch ist; bevor man seine Bedürfnisse befriedigen kann, muß man erst die Befriedigungsmittel schaffen, man muß erst produzieren, um konsumieren zu können. Bevor man aber produziert - muß man da nicht das Bedürfnis nach dem ersehnten Produkt empfunden haben (Kropotkin, 1989: 138)?"

Im Zentrum steht bei Kropotkin das Subjekt mit seinen Bedürfnissen. Mit dem Fortbestand eines Lohnsystems sieht er jedoch weiterhin das Objekt, die Leistung, im Vordergrund. Er kritisiert besonders Marx, der, von der Werttheorie Ricardos ausgehend, den Produkten den Wert der in ihnen enthaltenen Arbeit beimißt; für Kropotkin ergibt sich der Wert eines Produktes einzig aus dem Anteil, welches es zur Bedürfnisbefriedigung beisteuert (Kropotkin, 1989: 129).

Die Formel des Marxismus "Jedem nach seinen Werken" ist für Kropotkin falsch, Bedürfnisse und Leistungen dürfen allein deswegen in keine Relation gebracht werden, da

"die Bedürfnisse eines Individuums nicht immer seinen Werken entsprechen können. Die Frau, welche ihr Kleines säugt und schlaflose Nächte auf ihrem Pfühl verbringt [kann] nicht die gleichen Werke verrichten, als der Mann, der ruhig geschlafen hat (Kropotkin, 1989: 135, 136)."

Darüberhinaus ist für Kropotkin ein gerechtes Lohnsystem ohnehin undurchführbar, denn "heute, bei einem Zustand der Industrie, wo alles eng verwachsen und verschlungen ist, wo jeder Produktionszweig sich aller anderen bedienen muß, ist das Bestreben, den Produkten einen individualistischen Urprung beizumessen, etwas Anmaßendes und absolut Unhaltbares (Kropotkin, 1989: 19)." Er bestreitet, daß Arbeit in irgendeiner Weise mathematisch gemessen werden kann, denn nicht nur Zeit, sondern auch individuelle Arbeitsfähigkeit, Erlebniswert einer Arbeit und eine Vielzahl anderer Faktoren seien zu messen (Kropotkin, 1989: 126 ff.).
Von besonderem Interesse sind Kropotkins Hinweise auf die psychischen Auswirkungen des Lohnsystems. Die Argumentation verläuft ähnlich wie bei dem "Initiativenraub" durch den Staat. An die Stelle der spontanen Handlung tritt die Handlung aus Berechnung. Ein Lohnsystem bedeutet für Kropotkin den Verfall der (natürlichen) Sittlichkeit und Solidarität, den er schon in vielen Bereichen seiner Zeit diagnostiziert, "weil wir uns haben verleiten lassen, nicht zu geben, ohne zu empfangen; weil wir gewünscht haben, aus der Gesellschaft eine Handelsgesellschaft zu machen, gegründet auf Soll und Haben (Kropotkin, 1894 zitiert nach Hug, 1989: 56). Ohne freiwillige Arbeit könne allerdings keine Gesellschaft existieren; "Es hieße die Ausrottung der Menschheit, wenn eine Mutter nicht mehr ihr Leben wagte, um das ihrer Kinder zu retten, wenn jeder Mensch nicht auch überall dort geben wollte, wo er keine Rekompensation erwarten kann (Kropotkin, 1989: 135)."
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